Das Verlangen ist die Quelle des Leidens

Kürzlich realisierte ich, dass ich immer die negativen Seiten von allem sehe. Wenn jemand über Sozialhilfe redet, sehe ich die wirtschaftliche Kehrseite (Wenn man Leute dafür zahlt, nichts zu tun, so werden immer mehr Leute nichts tun.) Wenn Leute über die Corona-Massnahmen reden, sehe ich die gesellschaftliche Kehrseite (Zerstörung der Wirtschaft und Reduktion der Freiheit). Wenn jemand über Naturschutz redet, sehe ich die Gewalt, die hinter der Finanzierung über Steuern steht. Dasselbe bei der Altersvorsorge, bei der Krankenkasse, und bei hundert anderen Themen. Immer sehe ich die negative Kehrseite. Und oftmals, wenn ich die negative Kehrseite dann anspreche, werde ich von meinen Mitmenschen verbal angegriffen. Und gestern Abend realisierte ich in einem sehr emotionalen Moment, dass ich dies nicht mag, dass es mich verletzt, angegriffen zu werden, wenn ich Dinge anspreche, die effektiv ein Problem sind. Ich kann ja schliesslich auch nichts dafür, ich habe die wirtschaftlichen Gesetzmässigkeiten nicht erfunden, ich sehe bloss eine negative Folge der vorgeschlagenen Massnahme und spreche diese an.

 

Diese Interaktion, Angegriffen zu werden fürs Ansprechen eines Problems, erinnert mich sehr an das Konzept des Sündenbocks. Der Sündenbock ist ja das Ding, das als Stellvertretung für das effektive Problem bekämpft oder vernichtet wird, so dass man sich besser fühlen kann. Natürlich löst man damit das effektive Problem nicht, aber man kann sich im Augenblick besser fühlen, da man sich einbilden kann, etwas gegen das Problem zu tun. Kommt dann aber jemand, und kritisiert die stellvertretende Lösung, so kommt das originale schlechte Gefühl sofort wieder zurück. Natürlich hat der Zweifler auch seine Berechtigung, denn vielleicht kann man einen schlechten Ausgang in der Zukunft effektiv verhindern, wenn man sich in der Gegenwart mit dem Problem befasst, aber in der Gegenwart ist es eben unangenehmer sich mit dem Problem zu befassen, als an der einfachen Pseudo-Lösung festzuhalten. Und dieses unangenehme Gefühl in der Gegenwart kann man eliminieren, indem man den Zweifler mundtot macht. Denn wenn niemand mehr Einwände hat, ist die Lösung offensichtlich gut. Und vielleicht ist das originale Problem ja ein existenzielles Problem (Angst vor Krankheit und Tod), und dann wird es nie eine echte Lösung dafür geben. Es bleiben somit nur Pseudo-Lösungen oder Akzeptanz, und Pseudo-Lösungen funktionieren nur, solange niemand sie kritisiert.

 

Am darauffolgenden Tag begann ich einen Vortrag von Swami Sarvapriyananda über die vier edlen Weisheiten des Buddhismus zu hören. Und in diesem Vortrag lernte ich, dass Leben automatisch Leiden bedeutet, und dass Verlangen die Quelle des Leidens ist. Dies passt bestens zu meinem Erlebnis am Vortag, denn als ich realisierte, dass ich nicht immer der Sündenbock sein will, sagte meine Frau zu mir: "Ja aber du musst es ja nicht ansprechen. Vielleicht musst du die Leute einfach mal in den Hammer laufen lassen, so dass sie es selbst lernen können." Und da realisierte ich, dass ich eben dies nicht will, dass ich mit Allem was ich habe verhindern will, dass die Gesellschaft als Ganzes in den Hammer läuft. Denn mir kommen hierbei Bilder von Nazi Deutschland, von Stalins Russland, von Maos China, von allen Kriegen und Genoziden und Massakern und Hungersnöten der Welt auf, und ich will verhindern, dass dies wieder geschieht. Ich will es so stark verhindern, und deshalb muss ich immer die negativen langfristigen Folgen ansprechen, und deshalb wühlt es mich so auf, wenn die Menschen diese dann nicht verstehen wollen. Aber noch weiter, ich will es verhindern, weil ich selbst, wie Swami Sarva es so gut auslegte, in diesem Zustand, in diesem Körper und diesem Erleben weiter existieren will. Und hierfür brauche ich eine gut funktionierende Gesellschaft, und daher will ich, dass sie nicht vor die Hunde geht. Es ist also auch bei mir das Festhalten am Leben, am Körper, und die Angst vor Schmerz und Tod, die zu meinem Leiden führt. Und was die Buddhisten lehren ist, dass das Loslassen das Heilmittel gegen das Leiden ist. Verlangen, das frustriert wird oder droht frustriert zu werden produziert Leiden. Hat man aber kein Verlangen, dann kann man auch nicht leiden. Dies erinnert mich sehr an die Bhagavad Gita, in der mir der folgende Satz ins Ohr gestochen ist: Seine Pflicht zu tun ohne darauf zu hoffen, die Früchte seiner Arbeit geniessen zu können, das ist der beste Aktionskurs. Also auch Handeln ohne ein Verlangen nach einem bestimmten Outcome zu haben.

 

Diese Erkenntnis, so habe ich beim Schreiben realisiert, passt auch gut zur Lehre von Lao Tse. Anstatt eifrig alle Pseudo-Lösungen umzusetzen sollte man besser nichts tun. Sitzen, warten, meditieren, nachdenken. Und vielleicht kommt einem plötzlich eine gute Idee für eine effektive Lösung (sofern das Problem ein praktisches, lösbares Problem ist), und dann kann man diese ausprobieren. Trial-and-Error ist nicht falsch, aber das Ignorieren von Gegenargumenten und Festhalten an Pseudo-Lösungen schon. Hundert Pseudo-Lösungen zu tun nützt weniger als nichts zu tun, denn man verschwendet Zeit und Energie dabei. Also: anstatt politischem Aktivismus oder wilden Diskussionen mit Menschen die sich nicht für ein Thema interessieren, sollte ich mich besser ruhig hinsetzen und mich mit meiner eigenen Angst vor Schmerz und Tod auseinandersetzen. Dies würde weniger Krawall verursachen und wäre viel produktiver.

 

Am Morgen hörte ich dann weiter in der Vorlesung von Swami Sarvapriyananda, und da traf mich die Gemeinsamkeit all dieser Erlebnisse. Ich realisierte, dass zwischen dieser Lehre und der westlichen Lehre kein Widerspruch besteht. Die westliche Lehre besagt (sofern ich verstehe), dass man den Willen Gottes tun muss, aber keinen Anspruch auf einen bestimmten Outcome hat. Es wird so kommen wie Gott es will, und es ist gut so, und ich muss dies akzeptieren. Wenn Gott will wird es eine weitere gesellschaftliche Katastrophe geben, und wenn er nicht will, dann wird es sie nicht geben. Meine Aufgabe ist es nicht, dies beeinflussen zu wollen, sondern bloss das zu tun, was meine innere Stimme mir als das Richtige diktiert. Alles andere liegt nicht in meiner Hand.

 

Quelle: The Four Noble Truths | Swami Sarvapriyananda: https://youtu.be/QnGp0WON93I

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